Musik ist allmächtig, kann Völker verbinden. Foto: IMAGO/Presse-Photo Horst Schnase
Von 2016 bis 2021 reiste die Ausstellung »Stolen Moments. Namibian Music History Untold« durch mehrere europäische Städte, Berlin, Bayreuth, London, Stuttgart, bis sie 2022 in die namibische Haupstadt Windhoek verschifft wurde, wo sie dauerhaft bleiben soll. Dass sogar dort die populäre Musik des Landes aus der Zeit vor der Unabhängigkeit 1990 offenbar eher unbekannt ist, ist eine der überraschenden Erkenntnisse, die wir dem Moers-Festival verdanken.
Es ist durchaus bemerkenswert, dass auch die seit Jahrzehnten grassierende Suche nach ungehobenen Schätzen von Musik aus noch den entlegensten Regionen der Welt ausgerechnet an dem Land im Süden Afrikas weitestgehend vorbeigegangen zu sein scheint. In einer Podiumsveranstaltung im Rahmen des diesjährigen Moers-Festivals berichteten der an dem Projekt »Stolen Moments« beteiligte Filmemacher Thorsten Schütte und der namibische Musiker Jackson Wahengo vom Zustandekommen der Ausstellung. Die Gründe für die musikgeschichtliche Leerstelle dürften in der besonderen Geschichte der ehemaligen deutschen Kolonie liegen, die von 1915 bis 1990 von Südafrika verwaltet wurde.
In den in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten Afrikas, deren Grenzziehungen sich bekanntlich weitgehend den kolonialen Kräfteverhältnissen verdankten, war populäre Musik ein weit verbreitetes Mittel, Nationalgefühl zu stiften. In Südwestafrika, wie Namibia bis 1968 hieß, galten allerdings wie in Südafrika die Gesetze der Apartheid. Das bedeutete auch, dass die verschiedenen Völker im Land segregiert wurden. Zwar nahm das in den frühen 70er Jahren eingeführte nationale Radio lokale Musiker auf, jedoch nur für den Sendebetrieb; gesendet wurde dann jeweils für die entsprechenden Bevölkerungsgruppen. Da es überdies auch keine Plattenindustrie gab, war es für Musiker und Musikerinnen kaum möglich, über ihre Region hinaus, geschweige denn international bekannt zu werden. Wahengo brachte noch einen weiteren Aspekt ins Spiel: Populäre Musik genoss oft einen schlechten Ruf, weil sie mit billigen Kneipen in Verbindung gebracht wurde, die traditionellen Spielweisen wiederum waren vielen der christianisierten Namibiern als heidnisch verdächtig.
Im Rahmen des Projekts »Stolen Moments« wurde inzwischen immerhin die Musik des 2016 gestorbenen Sängers und Gitarristen Ben Molatzi wieder zugänglich gemacht, die seit den 80er Jahren im Dornröschen-Schlaf lag, bis das verdienstvolle Label Bear Family sie vor rund fünf Jahren als CD und LP veröffentlichte. Und auch Songs der Ugly Creatures, die in den späten 70ern zur Hausband der damals verbotenen kommunistischen Widerstandsbewegung SWAPO avancierten, wurden neu aufgelegt. Ansonsten ist die Materiallage dünn. An einem Mangel von Musik liegt das nicht. Schütte berichtet, dass das Projektteam zurzeit an einer Zusammenstellung mit Musik jener Jahre arbeitet. Rund 9000 Songs aus den Archiven seien inzwischen digitalisiert. Allerdings sei es eine langwierige und aufwendige Arbeit, die Rechte zu klären, die überlebenden Künstlerinnen und Künstler oder die Familienmitglieder der Verstorbenen zu kontaktieren und am Erlös zu beteiligen. Was freilich nicht nur geboten ist, weil die Musikerinnen und Musiker einst für ihre Rundfunkaufnahmen keinerlei Kompensation erhielten. Auf die Schätze aus den Archiven gilt es also noch ein wenig zu warten.
Immerhin gab es in Moers eine ganze Reihe von Live-Acts aus Namibia zu sehen, darunter ein Konzert unter dem Titel »Stolen Moments«, bei dem Wahengo mit ein paar Kolleginnen und Kollegen Songs der gestohlenen Zeit spielte, darunter auch ein Stück von Molatzi. Ein unbestrittener Höhepunkt des Festivals war das Ensemble Ju/’Hoansi aus dem Nordosten Namibias, das mit Tanz und einem faszinierenden polyphonen Gesang ungeahnte Emotionen triggerte und insgesamt dreimal auf dem Festival zu sehen war, wobei vor allem der Auftritt mit der Sängerin Shishani und Band am Rodelberg am Samstag eine schwer zu fassende, magische Energie verströmte. Dass die San, die vorkoloniale Kultur bewahren, überhaupt anreisen konnten, war ein nicht eben kleines Pfingstwunder. Shishani, die mit dem Ensemble seit Jahren arbeitet, berichtete am Sonntag bei einem Panel von den enormen Schwierigkeiten bei der Visa-Vergabe, in denen sich auch lange nach dem Ende der Kolonialzeit die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen dem sogenannten globalen Süden und den Industriestaaten ablesen lassen. In Namibia, erklärt Shishani, gehören 80 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Deutschen. Den Nachkommen derer also, die vor mehr als hundert Jahren im heutigen Namibia einen Genozid an Herero und Nama verübten. Während die deutsche Regierung es mit Entschädigungszahlungen weiterhin nicht allzu eilig zu haben scheint.
Ebenfalls aus Namibia angereist waren der Komponist und Bariton Elson Hindundu, der als Schöpfer der ersten namibischen Oper gilt, Vilho Nuumbala, der an den Schnittstellen von Techno, Metal und Punk arbeitet, und Angelina Tashiya Akawa, die bebilderten, wie aufregend die Musikszene des heutigen Namibia ist. Keine Frage: Eine kluge Entscheidung, den vor drei Jahren angekündigten »Afrika-Schwerpunkt« durch eine jährliche Beschäftigung mit einzelnen Ländern zu ersetzen.
Auch der zweite Schwerpunkt hatte einiges zu bieten: Die japanische Szene, freilich längst regelmäßig im Programm vertreten, war diesmal unter anderem mit der Pianistin Satoko Fuji, Koto-Virtuosin Michiyo Yagi und den Brachial-Minimalisten Goat vertreten. Yagi spielte beispielsweise mit der Harfenistin Zeena Parkins ein intensives freies Set und beeindruckte auch im Zusammenspiel mit Christian Lillinger und dem Bassisten Takashi Sugawa. Insgesamt gab es rund ein Dutzend Programmpunkte mit japanischer Beteiligung. Und auch abseits der Schwerpunkte war einiges zu erleben und entdecken: Der legendäre Arto Lindsay war zu Gast, das filigran perkussive Elektro-Dub-Duo Burnt Friedman & Joao Pais Filipe, die italienisch-senegalesische Kollaboration Ndox Electrique, das koreanische Ensemble Jambinai, das unter Einbeziehung traditioneller Instrumente schwere Drones verlegt; Amirtha Kidambi's Elder Ones aus den USA spielten sich mit Kollegen und Kolleginnen aus Japan auf dem Schulhof in Ekstase, Szene-Größen wie Conny Bauer, Liz Allbee und Erwin Ditzner tummelten sich in den diversen großen und kleinen Ensembles, mit einem gemeinsamen Projekt des Briten Rian Treanor und Ocen James aus Uganda wehte auch ein wenig Nyege-Nyege-Geist übers Gelände.
Es bleibt zu hoffen, dass dieser Ort der Verständigung auch in Zeiten abschmelzender Fördergelder erhalten bleibt.
Von Andreas Schnell
Link: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1182308.musik-moers-jazz-festival-ein-ort-der-verstaendigung.html (abgerufen am 05.06.2024 um 18:41)