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Empfindsame Anarchisten

nrwjazz.net
24. Mai 2024
FOTO: Stefan Pieper, Marion Kainz

Moers. Man muss für ein herausragendes Festival nicht möglichst viele prominente Bands aneinander reihen. Die aktuelle Ausgabe des Moers-Festivals punktete vor allem mit zahllosen überraschenden und energiegeladenen Kooperationen – nicht zuletzt auch zwischen NRW-Musikern und Künstlern unterschiedlichster Herkunft und Szenen. Heimische Musikerinnen wie die Julia Brüssel (Violine) und Emily Wittbrodt (Cello) improvisierten mit der Londoner Szene, der deutsche Schlagzeuger Christian Lillinger fusionierte mit den japanischen Traditionalisten Michiyo Yagi und Takashi Yugawa, Funk- und Free Jazz-Projekte wie "Brötzfrau" mit Kaspar Brötzmann, Conny Bauer, Bart Maris, Akayo Tutsen und Alex Krugloff schöpften aus kollektiver Improvisation maximale Kraft. Dazu begeisterten charismatische Beiträge aus Afrika mit der mutigen Verbindung verschiedener Genres wie die senegalesisch-italienische Band Ndox Electrique. Die Offenheit für Grenzüberschreitungen und spontane Begegnungen unterschiedlicher Stile synchronisierten die reiche Impro-Jazz-Historie mit einer ästhetisch hellwachen Gegenwart, welche Moers als weltweit geachtete Institution wie kaum sonst jemand sichtbar macht. Nachtsessions und ein Techno-Rave mit Rian Trenor sorgten für atmosphärische Abrundung.

Irritationen zu Beginn

Zu Beginn gab es aber erstmal Irritationen, als eine Künstlerin beim Auftaktkonzert "Free Palestine"-Rufe anstimmte und Teile des Publikums lautstark einstimmten. Um die immense Gefahr solcher Imageschädigungen zu bannen, bekundete Festivalleiter Tim Isfort eine klare Distanzierung des Festivals von solch einseitigen, plakativen Bekundungen, wo es keine Alternative gebe, als das Leid der Menschen auf beiden Seiten anzuerkennen. Auch dieses Statement erfuhr am letzten Festivaltag engagierten Beifall, Isforts Stellungnahme ist auch auf der Festival-Homepage veröffentlicht und hier verlinkt.

Zwei der meistbeschäftigten Musikerinnen aus NRW standen ganz groß im Zentrum dieser Festivalausgabe: Die hervorragend aufeinander eingespielten Musikerinnen Julia Brüssel und Emily Wittbrodt verbanden sich jeweils mit zwei Musikern der Londoner Café OTO-Szene, einem Ort der trotz feindlicher werdender Bedingungen für Kulturschaffende seit dem Brexit die improvisierte Musikkultur am Leben hält. Diese Begegnung sorgte gleich zu Beginn für energiegeladene Auftritte, bei denen fantasievolle Streicherklänge mit heftigem Klavierclustern von Alexander Hawkins und knackigem Bass von Neil Charles fusionierten. Von den beiden waren aber noch viele weitere überraschende Darbietungen zu erleben. Zum Beispiel auch eine spontane, sehr beseelt vorwärtstreibende Session zusammen mit dem Kontrabassisten Moritz Götzen und seiner Band.

Rätselhafte Schönheit

Die englische Band "Skylla" um die Südtiroler Bassistin Ruth Goller musste buchstäblich improvisieren, als sie nach wildem Reisechaos auf ihrem Flug von London nach NRW erst kurz vorm Auftritt in Moers eintraf, aber dann doch an Anhieb in ihre rätselhafte Poesie aus sphärischen Tonfolgen auf dem E-Bass und repetierten mehrstimmigen Vokalisen hineinfand. Seit Schlagzeuger Max Andrzejewski dabei ist, entwickelt sich das Format in neue Richtungen – man wünscht sich irgendwie, auch mal eine Duobesetzung zwischen Ruth Goller und Max Andrzejewski zu erleben. Hanns-Dieter Hüsch wäre in diesem Jahr 99 Jahre alt geworden, aber die Texte des gebürtigen Moersers könnten gerade erst den vielen menschlichen Befindlichkeiten von heute auf den Leib geschrieben sein.

Deswegen war es eine großartige Idee, diesen, in Moers geborenen Autor und sein gewichtiges literarisches Erbe zum Narrativ und roten Faden im Programm zu wählen und gleich mehrere anspruchsvolle Produktionen daraus zu generieren – etwa das Projekt „Henn, Türk und Toxodon haben jetzt zugegeben“ Johann Henns tiefschürfende Lesung verlieh diesen Texten auf jeden Fall eine ganz neue Sprengkraft. Vor allem aber wurden die Worte des Moerser Autoren auf vielsagende, assoziative Umlaufbahnen geschickt durch eine fantastische Besetzung mit Markus Türk (Trompete) sowie Raissa Mehner (E-Gitarre), Salome Amend (Vibrafon) und Simon Camatta, die zusammen das Trio Toxodon bilden und denen zu Hüschs sarkastischer und empathischer Weisheit ausgiebig pulsierende Klangszenarien einfielen.

Ein Schulhof als Kreativlabor

Diese besondere Bühne steht auf einem Schulhof, der so umfassend zum vibrierenden kreativen Labor geworden ist, so dass Tim Isfort manchmal schon eine Konkurrenz zu den anderen Spielorten des Festivals fürchtet. Andererseits belebt sich hier, ebenso wie bei den von Jan Klare mit Herzblut kuratierten Sessions das Kerngeschäft von Moers neu, wenn hier unablässig neue Musik entsteht. Das Moers-Programm im Jahr 2024 zeigte sich selbstbewusst, um sich jeder Anbiederungen an ein Massenpublikum zu verweigern. Die Netzwerke sind tragfähig genug bei den auftretenden Musikern aus zahlreichen Ländern, aber auch beim international anreisenden Publikum.

Spektakulär war andere Fusion zwischen einem hierzulande bestens etablierten Musiker und den eingeladenen Gästen aus Japan: Der Schlagzeuger Christian Lillinger synchronisierte seine zupackend komplexe Rhythmik mit der schroffen Saitenkunst der Kotospielerin Michiyo Yagi, nicht minder intensiv beackerte Takashi Yugawa seinen Bass dazu. Zu einem echten Hochamt des unlimitierten Jazz wurde der gefeierte Auftritt einer echten "All-Star-Besetzung": Das Projekt "Brötzfrau" mit Kaspar Brötzmann (E-Bass), Conny Bauer (Posaune), Bart Maris (Saxofon), Akayo Tutsen (Saxofon) und Alex Krugloff schöpfte aus einem kollektiv improvisierten Spiel maximal ergreifende Urkraft.

Die ästethische Gegenwart ist hellwach

Die Spiellust der Band „Stolen Moments" erwies sich auf der Open-Air-Bühne als die stärkere Kraft als der zu diesem Zeitpunkt einsetzende heftige Regen. Rian Trenor sorgte nachts mit seinem Afro-Techno für noch mehr Tanzwut am Rodelberg. Überhaupt zeigten die afrikanischen Beiträge, insbesondere aus Namibia, Senegal und Uganda, dass die Gegenwart im Jahr 2024 nichts mehr mit netten World-Music-Folklorismen am Hut hat, die charismatische Performance der senegalesisch-italienischen Band Ndox Electrique bot gar Heavy-Metal-Elemente auf, um alle Beteiligten zum Mittanzen auf der Bühne zu animieren. Zum Runterkommen betörten viele nächtliche Angebote Ohren und Geist– etwa eine ambient-artige Solo-Improvisation des Duisburger Gitarristen Thorsten Töpp.

Die große Ära des kollektiven Feierns im Freizeitpark ist Geschichte - es bleiben symbolträchtige Rituale, um die prägende, reiche Historie mit einer ästhetisch hellwachen Gegenwart zu synchronisieren. Andächtig wurde der Französin Cecile Lartigau, die mit ihrem Spiel auf dem elektromagnetischen Ondes Martenot (dem Lieblingsspielzeug von Olivier Messiaen) ein kleines Feuer nachts im Freizeitpark untermalte.

Die Überraschungen stellen sich meist dann ein, wenn man sich fragt, was kann denn jetzt noch kommen? Zum Beispiel eine ungeahnte Klangerfahrung, als das Oktett von Erwan Keravec die pulsierenden Lyrismen der Minimal-Musik von Philip Glass auf Bagpipes intonierte. Das eigentliche, würdige Finale dieser Moers-Ausgabe lieferte Arto Lindsay: Sanft säuselt seine Stimme, wenn er im Stil des Tropicalismo singt, zugleich kannte seine brachiale, selbst Hendrix überbietende E-Gitarrenbehandlung keine Gnade, um damit die Kunst des Widerspruchs in heutiger Zeit einmal mehr zu kultivieren.

Von Stefan Pieper

Link: https://nrwjazz.net/reviews/moers-festival-2024-report-stefan (Abgerufen am 15.09.2024 um 13:12)


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