Das Moers-Festival 2024 bietet erneut Zuflucht vor dem Welt-Wahnsinn und erweist sich dabei als besonders avantgarde-lastig. Musiker aus globalen Netzwerken schaffen einen brodelnden Kosmos aus Klangwelten und Grenzüberschreitungen. Das Erbe des Niederrheiner Autors Hanns Dieter Hüsch verleiht dem Festival einen besonderen Geist. Arto Lindsay beschließt das Fest mit seinem intim-brachialen Gitarrenspiel – die Welt braucht mehr solcher empfindsamer Anarchisten, und das Kapital des Festivals zeigt sich auch in seiner aktuellen Ausgabe, immer wieder neu zu überraschen.
Ndox Electrique – Foto © O-Ton
Zu Beginn gibt es erst mal Irritationen, als eine Künstlerin beim Auftaktkonzert „Free Palestine“-Rufe anstimmt und Teile des Publikums begeistert folgen. Um die immense Gefahr solcher Imageschädigungen zu bannen, bekundet Festivalleiter Tim Isfort eine klare Distanzierung des Festivals von solch einseitigen, plakativen Bekundungen, wo es keine Alternative gebe, als das Leid der Menschen auf beiden Seiten anzuerkennen.
Zwei der meistbeschäftigten Musikerinnen aus Nordrhein-Westfalen stehen ganz groß im Zentrum dieser Festivalausgabe: Die Violinistinnen Julia Brüssel und Emily Wittbrodt verbinden sich jeweils mit zwei Musikern der Londoner Café-OTO-Szene, einem Ort, der trotz feindlicher werdender Bedingungen für Kulturschaffende seit dem Brexit die improvisierte Musikkultur am Leben hält. Die Begegnung sorgt gleich zu Beginn für energiegeladene Auftritte, bei denen fantasievolle Streicherklänge mit heftigem Klavierclustern von Alexander Hawkins und knackigem Bass von Neil Charles fusionieren. Von den beiden sind aber noch viele weitere überraschende Darbietungen zu erleben. Zum Beispiel auch eine spontane, sehr beseelt vorwärtstreibende Session zusammen mit dem Kontrabassisten Moritz Götzen und seiner Band.
Die englische Band Skylla um die Südtiroler Bassistin Ruth Goller muss buchstäblich improvisieren, als sie nach wildem Reisechaos auf ihrem Flug von London nach NRW erst kurz vorm Auftritt in Moers eintrifft, aber dann doch auf Anhieb in ihre rätselhafte Poesie aus sphärischen Tonfolgen auf dem E-Bass und repetierten, mehrstimmigen Vokalisen hineinfindet. Seit Schlagzeuger Max Andrzejewski dabei ist, entwickelt sich das Format in neue Richtungen – man wünscht sich irgendwie, auch mal eine Duobesetzung mit Goller und Andrzejweski zu erleben.
Hanns-Dieter Hüsch wäre in diesem Jahr 99 Jahre alt geworden, aber die Texte des gebürtigen Moersers könnten gerade erst den vielen menschlichen Befindlichkeiten von heute auf den Leib geschrieben sein. Johann Henns tiefschürfende Lesung verleiht den Texten auf jeden Fall eine ganz neue Sprengkraft. Vor allem aber werden die Worte des Moerser Autoren auf vielsagende, assoziative Umlaufbahnen geschickt durch eine fantastische Besetzung mit dem Trompeter Markus Türk, Raija Mena an der E-Gitarre, Salome Amend am Vibrafon und Simon Camatta, denen zu Hüschs sarkastischer und empathischer Weisheit ausgiebig pulsierende Klangszenarien einfallen. Auch diese Band ist bei einer spontanen Session auf der Annex-Bühne im letzten Jahr entstanden.
Ruth Goller – Foto © Marion Kainz
Diese besondere Bühne steht auf einem Schulhof, der so umfassend zum vibrierenden, kreativen Labor geworden ist, dass Isfort manchmal schon eine Konkurrenz zu den anderen Spielorten des Festivals fürchtet. Andererseits belebt sich hier, ebenso wie bei den von Jan Klare mit Herzblut kuratierten Sessions das Kerngeschäft von Moers neu, wenn hier unablässig neue Musik entsteht. Das Moers-Programm in diesem Jahr zeigt sich selbstbewusst, um sich jeder Anbiederung an ein Massenpublikum zu verweigern. Die Netzwerke sind tragfähig genug bei den auftretenden Musikern aus zahlreichen Ländern, aber auch beim international anreisenden Publikum.
Zu einem echten Hochamt des unlimitierten Jazz wird der gefeierte Auftritt einer echten „All-Star-Besetzung“: Das Projekt „Brötzfrau“ mit dem E-Bassisten Kaspar Brötzmann, Posaunisten Conny Bauer, Bart Maris und Akayo Tutsen am Saxofon, und Alex Krugloff schöpft aus einem kollektiv improvisierten Spiel maximal ergreifende Urkraft.
Die Spiellust der Band Stolen Moments erweist sich auf der Open-Air-Bühne als die stärkere Kraft als der zu diesem Zeitpunkt einsetzende heftige Regen. Rian Trenor sorgt nachts mit seinem Afro-Techno für noch mehr Tanzwut am Rodelberg. Überhaupt zeigen die afrikanischen Beiträge, insbesondere aus Namibia, Senegal und Uganda, dass die Gegenwart im Jahr 2024 nichts mehr mit netten World-Music-Folklorismen am Hut hat; die charismatische Performance der senegalesisch-italienischen Band Ndox Electrique bietet gar Heavy-Metal-Elemente auf, um alle Beteiligten zum Mittanzen auf der Bühne zu animieren.
Die große Ära des kollektiven Feierns im Freizeitpark ist Geschichte – es bleiben symbolträchtige Rituale, um die prägende, reiche Historie mit einer ästhetisch hellwachen Gegenwart zu synchronisieren. Andächtig wird die Französin Cecile Lartigau, die mit ihrem Spiel auf dem elektromagnetischen Ondes Martenot – dem Lieblingsspielzeug von Olivier Messiaen – ein kleines Feuer nachts im Freizeitpark untermalt.
Die Überraschungen stellen sich meist dann ein, wenn man sich fragt, was kann denn jetzt noch kommen? Zum Beispiel eine ungeahnte Klangerfahrung, als das Oktett von Erwan Keravec die pulsierenden Lyrismen der Minimal-Musik von Philip Glass auf Bagpipes intoniert. Das eigentliche, würdige Finale dieser Moers-Ausgabe liefert Arto Lindsay: Sanft säuselt seine Stimme, wenn er im Stil des Tropicalismo singt, zugleich kennt seine brachiale, selbst Hendrix überbietende E-Gitarrenbehandlung keine Gnade, um damit die Kunst des Widerspruchs in heutiger Zeit einmal mehr zu kultivieren.
Stefan Pieper
Link: https://o-ton.online/hintergruende/o-ton-moers-moers-festival-pieper-240520/ (abgerufen am 30.07.2024 um 14:13)