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African Dance am Rodelberg und japanischer Klangrausch als Gesamtkonzept

Lokalkompass
21. Mai 2024
Christian Lillinger mit Michiyo Yagi und Takashi Sugawa

Christian Lillinger mit Michiyo Yagi und Takashi Sugawa (Foto: Photo Klaus Dieker @moers festival)

Teil 1

53 Jahre mœrs festival bedeuten 53 Jahre besondere Musik, die nicht im Radio zu hören ist. 52 Jahre lang wurde Jazz aufgeführt, „New Jazz“, improvisierte Musik, „Electronic“, Traditionelles aus vielen Ländern dieses Planeten, alles zusammengefasst unter dem eleganten Begriff „Avantgarde“ – und dieses Jahr war es genauso! Ist ein Konzert in der Festivalhalle vorbei und man geht zum Rodelberg, ist dort etwas Neues, etwas Unerwartetes zu hören. Ein Weiterzug zu den „Annex“- Sessions im Schulhof bringt das gleiche Ergebnis, dito in der Stadtkirche und an den weiteren, vielen Spielstätten. An den vier Tagen werden den interessierten Zuhörerinnen und Zuhörern mehr als 100 (!) Konzerte mit 220 Musikerinnen und Musikern, angereist aus 20 Ländern, dargeboten. Die 2024er Ausgabe stellte die musikalische Kunst Japans und Namibias in den Blickpunkt.

Das von Jeanne-Marie Varain, der Geschäftsführerin der mœrs Kultur GmbH und Tim Isfort, dem künstlerischen Leiter, erdachte Motto: „Jazzfestival für Musik, Besinnung, Politik, Superheldinnen und: Zusammensein“ fand sich in vielfältiger Weise wieder. Worte, Lieder und Gedanken von Hanns Dieter Hüsch begleiteten die vier Tage und brachten etliche zum Nachdenken (Besinnung), wie aktuell die Poesie dieses politischen Kabarettisten heute noch ist. Die „Superheldinnen“ wehren sich gegen Unfreiheit und Diktatur und geben Frauen eine starke Stimme. Die „Politik“ ist tagesaktuell bei vielen Auftritten und in Gesprächen der Zuschauer. Das „Zusammensein“ ermöglicht Diskurs und ein Gefühl „Hier bin ich richtig“, hier wird ein langes Wochenende friedlich gefeiert.

Die vorläufigen Besucherzahlen bei den Auftritten und auf dem Händlermarkt näherten sich Montagmittag denen des Vorjahres. Dreieinhalb Tage war das Wetter angenehm, ausgerechnet am Sonntagmittag, dem traditionellen Familienausflugstag, regnete es von 14 bis 18 Uhr. Das holten die Mütter, Väter und die Kinder am Montag nach, dass „Wo die wilden Kinder wohnen Land“ neben dem Alpaka-Gehege erwies sich wiederum als Magnet des Spaßes und der guten Laune.

Den Freitagabend eröffnete ein eigens für Moers zusammengestelltes Quartett mit den Briten Neil Charles und Alexander Hawkins sowie den Deutschen Julia Brüssel und Emily Wittbrodt. Diese Projekte des gemischten Doppels starteten im Vorjahr und resultieren aus einer Kooperation mit dem legendären Cafe OTO in London. Es ist eine typische Moers’sche Antwort auf das Kuriosum, das britische Musikerinnen und Musiker seit dem Brexit große Probleme (Visum et cetera) haben in „Festland-Europa“ aufzutreten und Künstler aus der EU in Großbritannien. Ergo wechseln die Combos ihre Besetzungen und buchen gegenseitige Auftritte in London und Moers – so lange bis britische und EU-Zollbeamte aufgeben. Das Quartett leitete mit seinen Improvisationen einen spannenden Abend ein, den die Formation „Skylla“ mit Ruth Goller, Lauren Kinsella, Alice Grant und Max Andrzejeski exakt fortsetzte. Nach dem Rodelberg wartete in der Festivalhalle Amitha Kindambi’s „Elder Ones“. Kindambi stellte ihre Mitmusiker (Matt Nelson, Alfredo Colon, Lester St. Louis, Jason Nazary) vor und erläuterte, warum sie so gerne nach Moers gekommen sind, so gerne hier und jetzt auftreten, sie sagte drei gelernte Worte auf Deutsch: „Moers isch politisch“. Es folgte ein beeindruckender Vortrag, warum die Band existiert, was sie verbindet und schließlich ihre Intention: Aufmerksam machen gegen Ungerechtigkeiten auf diesem Planeten. Ihr Repertoire besteht ausschließlich aus Protestsongs, Songs gegen Unmenschlichkeit, gegen Gewalt, gegen Gewalt gegen Frauen. Sie nannte auch in aller Deutlichkeit Regime, Diktaturen und zweifelhafte Demokratieführer und -innen, von Afghanistan über Modi in Indien, über Teheran hin zu den unhaltbaren Zuständen in Gaza. Das Quintett bot teils rockigen, fetzigen Jazzrock, teils traurige und depressiv klingende Songs vor – wie lassen sich sonst Unmenschlichkeit und Protest ausdrücken?

Für den Samstag hatte sich der viel beschäftigte Jan Klare (Musiker, Bandleader, Komponist und mœrs sessions – Kurator) eine neue Kapelle ausgedacht: „KIND“. Klare meinte zu Beginn: „Jetzt gibt es Jazz, wie es ihn früher mal in Moers zu hören gab“, es war schnell, es war laut, selten leise, es war frei und tatsächlich auch mit traditionellen Jazzelementen bestückt – der Rodelberg war entzückt. Zwei Duos in Folge begeisterten die Zuschauerinnen und Zuschauer in der Festivalhalle. Zeena Parkins an der Harfe, zum siebten Mal in Moers, musizierte mit Michiyo Yagi, einer ausgewiesenen Könnerin an der japanischen Koto. Das Spielen der Harfe ist in der Klassik eine zarte Angelegenheit, jedoch nicht, wenn Parkins die Saiten mit einem Feile-artigen Gegenstand zum Schwingen bringt! Anschließend grüßte der Altmeister der Posaune, Conny Bauer, seine Fans und harmonierte mit Rieko Okuda am Piano in leisen, feinen Passagen 35 Minuten lang.

Ende Teil 1, bitte im Teil 2 weiterlesen.

Von Klaus Denzer

Link: https://www.lokalkompass.de/moers/c-kultur/african-dance-am-rodelberg-und-japanischer-klangrausch-als-gesamtkonzept_a1957052 (abgerufen am 06.06.2024 um 16:07) 

Teil 2

Conny Bauer und Rieko OkudaFoto: Photo Dennis Hoeren @mœrs festivalhochgeladen von Klaus Denzer

Die neuen Freunde der Moerser heißen Shishani + Ju/Hoansi-San, kommen aus Namibia und bescherten den Rodelberg mit einem African Dance – Evening. Das war exakt der richtige Act, um den Rodelberg zum Kochen zu bringen, es war beste Unterhaltung, Spaßfaktor pur. Das gipfelte darin, dass die Truppe Tanzschritte auf der Bühne vormachte, die „der Rodelberg“ nachmachen sollte und zusätzlich mit rhythmischem, in die Hände klatschen. Vier/fünftel der Zuschauerinnen und Zuschauer erhoben sich ad hoc und brachten die Hüften in Schwung und klatschten mit. Großartig.

„GOAT“ nennt sich die Truppe um Koshiro Hino (Akihiko Ando, Atsumi Tagami, Rai Tateishi und Akio Jeimus). Hier ist der Rhythmik alles untergeordnet, das Drum-Set und die Percussions beherrschen den Stil, der Bass und das Saxophon sind ohne Soli und Lead-Stimme, sondern Zulieferer der Rhythmik-Section. Das war der Act für Rhythmik-Fans, es folgte ein mega Applaus und stehende Ovationen.

Das jährliche Projekt für die jungen Komponisten und Musiker firmiert aktuell als „Captain Niederrhein im Rausch des Unimœrsums“. Die 14-köpfige Großformation wurde unterstützt von vier Profi-Musikern und führten eine 22-minütige Komposition auf, kuratiert von Leticia Isabel Carrera und Lukas Döhler.

Im letzten Jahr starb der Großmeister des Free Jazz, Peter Brötzmann. Als Hommage an den Dauergast in Moers setzte sich ein internationales Oktett der Extraklasse zusammen: Conny Bauer, Bart Maris, Alexander Kruglov, Kellen Mills, Achim Krämer, Masayo Koketsu und der ebenfalls renommierte Caspar Brötzmann, Peters Sohn. Ohne vorherige Probe improvisierten die Acht frei und dennoch ging jeder und jede auf den Part des anderen ein, definitiv beeindruckend.

Während der Frauenanteil in den Vorständen der deutschen Unternehmen erheblich zu wünschen übrig lässt, dito der Frauenanteil bei großen Rockfestivals, ist Moers ein Vorreiter. Ein Blick in das Programmheft zeigt, dass reine Frauencombos auf den Bühnen standen und kaum eine Formierung ohne weibliche Musiker auftrat. Und das ist der Übergang zur „Politik“.

Moers 2024 war definitiv politisch, das zeigte sich in den Diskussionen (unter anderem mit dem bekannten Dr. Ulrich Schneider vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband), das zeigte sich in der Musik, das zeigte sich in den Texten und in den Ansagen von Protagonisten aus den USA, aus Namibia, aus europäischen Ländern. Auf die vielen eindeutig zu deutenden Songs, aus den Vorträgen der Musikerinnen und Musiker reagierten die Zuhörerinnen und Zuhörer konsequent: Ablehnung allen Hasses, aller Gewalt, aller Unmenschlichkeit, ergo Ablehnung aller Orbans auf diesem Planeten, allen Putins et all. und insbesondere allen Hardlinern in der israelischen Regierung unter B. Netanjahu. Ein Ausruf „Frieden für Gaza“ hat nichts, aber auch gar nichts mit Antisemitismus zu tun. Niemand stellte das Existenzrecht Israels und das Leid, das israelische Bürger zu ertragen haben, infrage, eines und das ist zu erkennen gewesen insbesondere in diesem unmenschlichen Nahostkonflikt: Die Menschen lassen sich nicht vorschreiben, was sie zu denken haben. Was in Gaza geschieht, sehen Menschen nicht nur auf der wohlhabenden Nordhalbkugel der Erde, sondern auch die auf der Südhalbkugel. Sie fühlen sich an grausamste Zeiten des Kolonialismus erinnert. Moers mit seiner Zusammenkunft mit über 200 Musikerinnen und Musikern aus über 20 Ländern und den Bürgern der Stadt, des Umlandes und den vielen Gästen können nichts an diesen Zuständen ändern. Sie haben sich vier Tage „Luft“ verschafft für ihr Ungerechtigkeitsgefühl, für die Machtlosigkeit gegen alle politischen, wirtschaftlichen und klimaschädlichen Konflikte. Friedlich.

Vier Tage der Ablenkung vom zermürbenden Alltag, vier Tage der Freude in Moers sein zu dürfen. Vier Tage des Happiness, der interessanten Unterhaltungen mit bis dahin unbekannten, anderen Gästen des Festivals, des Austauschs zur Musik = Jazz = Improvisation, des Austauschs von Meinungen, von Gefühlen. Existiert in diesem Land auch nur ein Festival in einer Stadt, in der das so passiert? In Berlin, beispielsweise, geht es ausschließlich um Stolz, um Umsatz, um Gewinnmaximierung, um Preise. In Moers geht es um: Zusammensein.

Klaus Denzer

Link: https://www.lokalkompass.de/moers/c-kultur/african-dance-am-rodelberg-und-japanischer-klangrausch-als-gesamtkonzept_a1957061 (abgerufen am 06.06.2024 um 16:17) 


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